
Ärztliche Exzellenz war lange Zeit gleichbedeutend mit fachlicher Brillanz am Patientenbett. Doch das moderne Gesundheitssystem stellt neue Anforderungen: Neben diagnostischem und therapeutischem Können treten zunehmend auch Führungsqualitäten in den Vordergrund. Ärzte leiten Teams, treffen Managemententscheidungen und prägen die Unternehmenskultur ihrer Einrichtung – ob in der Klinik, der Praxis oder in der Forschung – entscheidend mit. Die wachsende Verantwortung führt nicht selten zu inneren Spannungen. Auf der einen Seite das Ideal des Heilens, auf der anderen das Managen eines erfolgsorientierten Teams. Dazwischen liegen oft Welten. Der folgende Beitrag beleuchtet, wie sich das ärztliche Rollenverständnis verändert, welche Kompetenzen moderne Ärzte mitbringen sollten – und wie der Spagat zwischen medizinischer Exzellenz und Führungsverantwortung dennoch gelingen kann.
Inhaltsverzeichnis
Rollenverständnis im Wandel
Die klassische Arztrolle war lange auf medizinisches Fachwissen und das direkte Gespräch mit dem Patienten fokussiert. Führung war, wenn überhaupt, nur implizit vorhanden – durch Erfahrung, Status oder klare Hierarchien. Heute gilt: Wer Verantwortung für Prozesse, Personal oder Budgets übernimmt, braucht auch explizite Führungsqualifikationen.
In der Schweiz wächst die Erkenntnis, dass gute Medizin nicht nur im Einzelfall entsteht, sondern auch durch gelungene Teamarbeit, transparente Kommunikation und effiziente Abläufe. Führung wird damit zur ärztlichen Kernaufgabe – nicht nur für Chefärzte. Auch leitende Oberärzte oder Praxisinhaber müssen Entscheidungen treffen, Menschen anleiten und Strukturen gestalten.
Dieser Rollenwandel verläuft häufig nicht reibungslos. Viele Mediziner berichten von Unsicherheiten oder inneren Konflikten: Soll ich mich ganz der Patientenversorgung widmen – oder auch Führungsverantwortung übernehmen? Ist Management nicht gleichbedeutend mit Bürokratie – und damit der Gegenpol zu meiner Berufung?
Medizinische Exzellenz
Unbestritten bleibt, dass fachliche Kompetenz das Fundament ärztlichen Handelns bildet. Sie umfasst weit mehr als das Befolgen von Leitlinien und Studienergebnissen – auch klinische Intuition, Erfahrung, empathisches Zuhören und die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte verständlich zu erklären gehören dazu.
Medizinische Exzellenz zeigt sich in der souveränen Beherrschung akuter Situationen, präziser Diagnostik sowie in einer verantwortungsvollen Indikationsstellung. In der Schweiz wird diese Qualität durch ein dichtes Netz aus Weiterbildungspflichten, Facharztprüfungen und Qualitätskontrollen sichergestellt.
Doch ihre volle Wirkung entfaltet die Exzellenz nur in einem funktionierenden System – mit gut organisierten Teams, klaren Abläufen und unterstützender Führung. Ohne entsprechende Managementstrukturen drohen Reibungsverluste, ineffiziente Prozesse und unnötige Belastungen. Medizinische Exzellenz ist damit notwendig – aber nicht mehr allein hinreichend.
Führungsverantwortung
Führung bedeutet weit mehr als das Ausfüllen einer hierarchischen Position. Sie verlangt kommunikative Stärke, strategisches Denken, Konfliktfähigkeit und emotionale Intelligenz. Wer ärztlich führt, muss Teams inspirieren, Mitarbeitende entwickeln, Verantwortung abgeben können – und auch unpopuläre Entscheide vertreten.
In Spitälern, medizinischen Versorgungszentren und Praxen bedeutet das konkret:
- Dienstpläne erstellen und fair gestalten
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern
- Nachwuchsärzte anleiten und evaluieren
- Budgetziele einhalten
- Veränderungen im System moderieren
- Konflikte im Team bewältigen und Spannungen lösen
Diese Aufgaben erfordern andere Kompetenzen als das klinische Tagesgeschäft. Entsprechend überrascht es nicht, dass sich viele Ärzte in dieser Rolle zunächst überfordert fühlen. Eine Umfrage unter Schweizer Spitalärzten ergab, dass die Mehrheit keine formale Führungsausbildung absolviert hat – und sich entsprechende Schulungen ausdrücklich wünscht.
Programme wie das „Leadership Development Program for Physicians“ (etwa durch Med2day oder King’s Health Partners) sowie nationale Angebote – z. B. von der FMH, H+ Bildung oder universitären Weiterbildungszentren – setzen hier an. Sie vermitteln Grundlagen in Organisationsentwicklung, Führungspsychologie und Change Management, zugeschnitten auf die ärztliche Realität.
Lesen Sie hierzu außerdem:
- Ärztliche Führung im Spital: Ein Leitfaden
- 7 Kommunikationsstrategien für Oberärzte
- Wie Ärzte häufige Fehler in der Personalführung vermeiden
Medizinische Exzellenz vs. Führungsverantwortung: Spannungsfelder im Alltag
Der Spagat zwischen medizinischer Exzellenz und Führungsverantwortung zeigt sich besonders im klinischen Alltag – oft als chronischer Zielkonflikt.
Zeit vs. Präsenz
Führungsaufgaben erfordern strategisches Arbeiten in Sitzungen – jenseits des Patientenbetts. Viele Ärzte empfinden das als entfremdend: Sie sehen sich als Behandler, nicht als Bürokraten. Das schlechte Gewissen, „nicht beim Patienten“ zu sein, kann zur inneren Zerreissprobe werden.
Kollegialität vs. Autorität
Wer vom Kollegen zur Führungsperson wird, steht vor einem Dilemma: Nähe und Vertrauen bleiben wichtig – aber gleichzeitig müssen Entscheide durchgesetzt, Fehlverhalten adressiert oder Leistungsdefizite benannt werden.
Fachkompetenz vs. Systemkompetenz
Fachlich exzellente Ärzte können schlechte Führungskräfte sein – und umgekehrt. Die Fähigkeit, komplexe medizinische Zusammenhänge zu erfassen, bedeutet nicht automatisch, auch ein Team effektiv zu führen oder Prozesse sinnvoll zu gestalten.
Ideale vs. Realität
Viele Ärzte möchten „gute Medizin“ machen, stossen aber auf Budgetrestriktionen, Fallpauschalen oder Personalengpässe. Wer führt, muss mit diesen Begrenzungen umgehen, sie kommunizieren und vertreten – selbst wenn sie dem eigenen Anspruch widersprechen.
Zwischen Ethik und Ökonomie
Führungsverantwortung bringt auch eine ethische Dimension mit sich: Wie lassen sich medizinische Entscheidungen mit ökonomischem Druck vereinbaren, ohne das ärztliche Ethos zu gefährden? Hier ist Urteilsfähigkeit, Priorisierungskompetenz und Transparenz gefragt.
Digitalisierung als Herausforderung
Der zunehmende Einsatz digitaler Systeme (z. B. EPD, Telemedizin, KI) verlangt von Führungskräften nicht nur technisches Verständnis, sondern auch die Fähigkeit, Veränderungsprozesse aktiv zu gestalten.
Lösungsansätze & Strategien
Ein konstruktiver Umgang mit diesen Spannungsfeldern erfordert bewusste Strategien – auf individueller, organisatorischer und systemischer Ebene:
Individuelle Ebene
- Selbstreflexion und Rollenklärung: Was sind meine Stärken? Welche Haltung will ich einnehmen?
- Weiterbildung: Führung ist erlernbar – etwa durch Kurse zu Kommunikation, Teamentwicklung oder Selbstmanagement.
- Mentoring & Peer-Supervision: Der Austausch mit anderen Führungskräften hilft, blinde Flecken zu erkennen und psychischer Überlastung vorzubeugen.
Organisatorische Ebene
- Führung als expliziter Karrierepfad: Kliniken und Trägerschaften sollten Führungsinteresse frühzeitig erkennen und fördern.
- Geteilte Verantwortung: Ärztliche Leitung kann durch Managementpartner (z. B. Praxismanager) ergänzt werden.
- Strukturelle Entlastung: Digitale Tools, strukturierte Teamsitzungen und klare Kommunikationswege reduzieren Reibung und erhöhen die Wirksamkeit.
Systemische Ebene
- Führungskultur fördern: Weg vom Einzelkämpfertum – hin zu lernenden Organisationen mit Fehlerkultur und Interdisziplinarität.
- Anreizsysteme anpassen: Medizinische und Führungsleistungen sollten gleichermassen honoriert werden.
- Führungsarbeit sichtbar machen: Gute Führung braucht Zeit – und Anerkennung. Diese Leistung darf nicht im Verborgenen bleiben.
Fazit: Medizinische Exzellenz vs. Führungsverantwortung
Die ärztliche Rolle verändert sich. Medizinische Exzellenz bleibt zentral – aber ohne Führungsverantwortung ist sie im heutigen System kaum noch wirksam. Wer die Zukunft der Medizin mitgestalten will, muss nicht nur heilen, sondern auch führen.
Das bedeutet nicht, dass jeder Arzt eine Führungsrolle übernehmen muss. Aber: Jeder sollte verstehen, dass gute Führung keine Nebensache ist – sondern ein integraler Bestandteil guter Medizin. In der Schweiz wächst das Bewusstsein dafür. Nun braucht es Schulungen, Räume und tragfähige Strukturen, um diesen Wandel produktiv zu gestalten.