
In Schweizer Spitälern sitzen Männer weiterhin fast ausschliesslich an der Spitze. Der neue Glass Ceiling Index der Universität St. Gallen zeigt dies in aller Deutlichkeit: Unter den untersuchten Branchen ist die Medizin diejenige mit der ausgeprägtesten „gläsernen Decke“. Mit einem Wert von 4,8 liegt sie noch deutlich über Versicherungen und Banken. Ein Wert von 1 würde bedeuten, dass der Anteil der Frauen in Führungspositionen dem Anteil in der Gesamtbelegschaft entspricht – von diesem Ziel ist die Ärzteschaft weit entfernt.
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Der steile Abfall in der Karriereleiter
Während Ärztinnen im Nachwuchsbereich längst zur Mehrheit gehören, dünnt sich ihre Präsenz mit zunehmender Hierarchiestufe aus. In den Assistenzjahren dominieren sie, auf Oberarztstufe halten sich die Geschlechter in etwa die Waage. Je höher die Karrierestufe, desto drastischer sinkt jedoch der Frauenanteil: Unter den leitenden Ärztinnen liegt er bei rund einem Drittel, bei den Chefärztinnen erreicht er kaum 15 Prozent. Diese Entwicklung ist keineswegs neu, doch der aktuelle Index belegt, dass der Rückstand im Vergleich zu anderen Branchen besonders gravierend ist.
Ursachen: Teilzeit, Alter und Strukturen
Zu den Ursachen gehört die Tatsache, dass Ärztinnen häufiger Teilzeit arbeiten oder ihre Arbeitszeit reduzieren, was sich in der Konkurrenz um Spitzenpositionen nachteilig auswirkt. Hinzu kommt, dass Chefärzte in der Regel seit vielen Jahren etabliert sind und damit eine Alterskohorte dominieren, in der Männer noch klar überrepräsentiert sind. Strukturelle Hindernisse verschärfen die Lage: Führungspositionen werden oftmals über langjährige Netzwerke oder persönliche Loyalitäten vergeben. Transparente Auswahlverfahren sind die Ausnahme, wodurch Bewerberinnen weniger Chancen auf Sichtbarkeit haben.
Kulturelle Barrieren und stereotype Erwartungen
Auch kulturelle Faktoren spielen eine wichtige Rolle. In der Spitalkultur gelten Eigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit, Unabhängigkeit und unbedingte Verfügbarkeit noch immer als entscheidende Führungsqualitäten. Diese Zuschreibungen sind in der Wahrnehmung stark männlich geprägt, was Ärztinnen doppelt belastet: Sie müssen ihre Kompetenz beweisen und gleichzeitig stereotype Erwartungen widerlegen. Zudem mangelt es an weiblichen Vorbildern im obersten Kader. Zwar gibt es immer mehr leitende Ärztinnen, doch der Sprung in die Chefarztetage gelingt nur wenigen.
Ein vorsichtiger Wandel ist erkennbar
Gleichzeitig ist ein vorsichtiger Wandel erkennbar. Der Frauenanteil in der Ärzteschaft steigt kontinuierlich und liegt inzwischen bei knapp 45 Prozent. Vor zehn Jahren waren es noch deutlich weniger. Auch bei den leitenden Ärztinnen ist der Anteil gewachsen, wenn auch langsamer als in der Gesamtärzteschaft. Zudem haben sich in den letzten Jahren Initiativen gebildet, die den Aufstieg von Ärztinnen gezielt fördern wollen. So hat sich kürzlich die Chefärztinnen-Vereinigung (Cmws) als Teil von Medical Women Switzerland gegründet. Ihr Ziel ist es, Ärztinnen zu vernetzen, bei Stellenvergaben für mehr Transparenz einzutreten und gezielte Nachwuchsförderung zu betreiben.
Welche Massnahmen nötig wären
Experten sind sich einig, dass ein Kulturwandel unabdingbar ist. Dazu gehört, Führungsaufgaben stärker mit flexiblen Arbeitsmodellen zu verbinden und auch Teilzeit oder Jobsharing auf Chefarztebene zu ermöglichen. Ebenso wichtig sind transparente Verfahren bei der Besetzung von Spitzenpositionen. Wo Auswahlkriterien offengelegt und Stellen breit ausgeschrieben werden, verbessert sich die Chancengleichheit nachweislich. Mentoring-Programme und gezielte Förderung des weiblichen Nachwuchses können zusätzlich helfen, Hemmschwellen abzubauen.